Schamanin reloaded

Die 5. Sachsen-Anhaltische Landesgartenschau würdigt im Kurpark von Bad Dürrenberg eindringlich auch einen archäologischen Sensationsfund, der die Geschichte der Menschheit ganz neu erzählt. Anders auf jeden Fall, als sie allgemein geläufig ist.

Schon im Jahre 1934 wurden die knapp 9.000 Jahre alten Gebeine im Rahmen von Kanalarbeiten im historischen Kurpark zufällig entdeckt. Sofort war klar, dass es sich um die Beisetzung einer hochstehenden Persönlichkeit aus grauer Vorzeit handelt.

Die Nationalsozialisten waren begeistert und sahen hier das Grab eines Urgermanen – und damit die Bestätigung ihrer Ideologie. Das wirkte sich im Kalten Krieg eines geteilten Deutschlands in einem sozialistischen Machtbereich nicht vorteilhaft aus. Der Fund verschwand weitgehend unbeachtet im wissenschaftlichen Archiv des Landesmuseums in Halle/ Saale.
Um die Jahrtausendwende wusste in Bad Dürrenberg niemand etwas von einer Schamanin. Klar, denn es gab sie schließlich auch nicht. Sie fand erst ein paar Jahre später in die Welt – nach einem Dornröschenschlaf, der rund 8.000 Jahre dauerte. Fast so wie im Märchen.

Im kleinen fachkundigen Kreis über die Besonderheiten des außergewöhnlichen Kurparks munkelte man in Bad Dürrenberg zwar schon damals ab und an etwas über einen seltsamen Fund aus grauer Vorzeit, doch Genaues wusste man nicht oder wollte man nicht wissen.

Dann aber kam nach und nach Bewegung in die Sache, was auch mit der Arbeit und Umtriebigkeit des Landesarchäologen Harald Meller zu tun hatte, der 2001 die Leitung des Landesmuseums für Vorgeschichte Sachsen-Anhalt in Halle/ Saale übernahm und 2002 weltweite Bekanntheit erlangte durch die Sicherstellung und Erforschung der „Himmelsscheibe von Nebra“.

Das Max-Planck-Institut für evolutionäre Anthropologie (EVA) in Leipzig, das weltweit zu den führenden Zentren zur Erforschung der Menschheitsgeschichte zählt und auch schon das Genom der Neandertaler entschlüsselte, ermittelte aus den sterblichen Überresten die Gewissheit, dass es sich um eine dunkelhäutige Frau mit blauen Augen zwischen Anfang und Mitte 30 handelt. Das mit ihr bestattete Kind im Alter von etwa acht Monaten ist nicht ihr eigenes. Der Junge könnte aber mit ihr verwandt sein im dritten oder vierten Grad.

Professor Meller beleuchtet das ausführlich mit dem Historiker Kai Michel im gemeinsamen Buch „Das Rätsel der Schamanin“, das 2022 im Hamburger Rowohlt-Verlag erschien und uns packend in die Mittelsteinzeit und die Lebenswelt der Westeuropäischen Jäger und Sammler eintauchen lässt.

Die reichen und speziellen Grabbeilagen deuten darauf hin, dass es sich um eine hochverehrte Schamanin gehandelt haben könnte, der auch noch 600 bis 800 Jahre nach ihrem Tod gehuldigt wurde, wie ergänzende Funde aus weiteren Grabungen im Jahr 2019 belegen.

Was ist Zeit – und wie weit können wir uns erinnern? Heutzutage gibt es Bundestagsabgeordnete, die nicht wissen, wann die Bundesrepublik gegründet wurde, obwohl wir 2024 deren 75. Geburtstag feiern … Ein wenig Denkvermögen, Interesse für Gemeinsinn und minimale Rechenkunst können hilfreich sein. Das aber ist uns vielfach abhandengekommen. Ein Besuch im Kurpark könnte auch diesbezüglich sensibilisieren und inspirieren.

Gehen wir aus heutiger Perspektive rund 600 Jahre zurück, gelangen wir etwa ins Jahr 1423. Da wurde den wettinischen Markgrafen von Meißen die Kurwürde verliehen, worauf sie ihr Herrschaftsgebiet in Kurfürstentum Sachsen umbenannten. Was auch dazu führte, dass wir zu wissen glauben, wie sächsisch klingt …

Und vor 800 Jahren herrschte der auf Sizilien geborene Kaiser Friedrich II., ein Enkel Friedrich Barbarossas. Er sprach mehrere Sprachen fließend, darunter die arabische, und unterhielt einen stark multikulturellen europäisch orientierten Hof …

Vielleicht haben sich die Menschen sogar noch länger an die Taten und Weisungen der Schamanin von Bad Dürrenberg, das es unter diesem Namen erst seit 1935 gibt, erinnert. Wir wissen es nicht.

Der Sensationsfund von 1934 wurde nach rund 80 Jahren reloaded. Seitdem brachte er eine Reihe von Spielfiguren hervor, die dem Antlitz der Schamanin nachempfunden sind. Dazu Hollywood-Produktionen und TV-Serien, die sich von ihr inspirieren ließen. Das alles ist hilfreich, weil es Aufmerksamkeit fördert für neue Einsichten in eine lange vergangene Zeit, die wir so zuvor nicht im Blick hatten.

Noch bis Mitte Oktober können Gäste der 5. Sachsen-Anhaltischen Landesgartenschau im Kurpark von Bad Dürrenberg an das Grab der Schamanin treten. Etwa 100 Meter entfernt davon vermittelt eine dreidimensionale Projektion Eindrücke aus ihrem Leben. Aufbereitet in einem Zelt, wie es vor knapp 9.000 Jahren als Behausung von Jägern und Sammlern typisch gewesen sein könnte.

Ihre Gebeine und vertiefende Einblicke in die Lebenswelt der „Schamanin von Bad Dürrenberg“ lassen sich in einer eigenen Dauerausstellung im Landesmuseum für Vorgeschichte in Halle/ Saale bestaunen.

Der Geist dieser hochverehrten, heilkundigen und weisen Frau dagegen wohnt vielleicht nach wie vor im Kurpark von Bad Dürrenberg. Gäste der Landesgartenschau jedenfalls berichten von einem eigenartigen Zauber und einer Magie, die sie unbewusst spüren, ohne es näher erklären zu können.

Möglicherweise ist es aber auch gerade das, was die kluge Seherin einst in dieses Umfeld zog. Das es sich um einen besonderen Ort handelt ist unbestritten. Die riesige Solequelle tief unter der Erde etwa bezeugt das, denn schon die Schamanin wusste offenbar davon.

Es hat nach ihrem Tod bis 1763 gedauert, bis die Sole durch den genialen Bergrat Johann Gottfried Borlach (1687-1768) nach jahrzehntelanger und entbehrungsreicher Suche wiederentdeckt wurde. Nun sind beide wieder greifbar, die Sole und die Schamanin. Ohne die Landesgartenschau wäre es kaum möglich gewesen. Sie öffnet uns auch diesen „Himmelsweg“ neu.

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